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Aus:
Was zählt. Magazin für eine lebenswerte Zukunft in der Region Lüneburg.
Thema: „Auf|hören“ – Nummer 5, Juni 2017
14 von 100 Erwachsenen können nicht gut genug lesen
14 von 100 Erwachsenen können nicht gut genug lesen

Mancher braucht Mut zum Lesen
Frau Schmitt stellt einen Kaffee aus dem Automaten auf den Tisch.
Sie hatte schon 2 Stunden Unterricht und braucht jetzt einen Munter•macher.
„Immer diese Becher aus Plastik …!“, ärgert sie sich.

„Ist Nachhaltigkeit eigentlich Teil von Grundbildung?“, frage ich. „Nicht als
Unterrichts•fach“, antwortet Frau Thiem.
Sie ist Kursleiterin an der VHS, der Volkshochschule Region Lüneburg. „Aber eine
gute Idee.“
Frau Meyer ist die 3. im Bunde.

Sie ist Mitglied von Wortblind, wie Frau Schmitt. Die Wortblinden haben aufgehört,
ihr Problem zu verstecken. Sie stärken sich dabei gegenseitig den Rücken.
Sie kommen aus den verschiedenen VHS-Kursen, in denen sie lesen lernen.

Doch die Selbsthilfe•gruppe der VHS will mehr: Sie geht an die Öffentlichkeit. Denn
sie will das Tabu brechen, sie will aufklären.
Sie will anderen Betroffenen helfen.

7,5 Millionen

Betroffen sind 7,5 Millionen Erwachsene. Für Lüneburg und den Landkreis geschätzt
sind es 15.000.
Der Begriff lautet: funktionale Analphabeten (sprich: An-al-fa-bee-ten).
Diese Menschen können nicht gut lesen und schreiben. An der VHS können sie es
lernen. Mit Spaß. Deshalb klappt das.

Wer nicht gut lesen kann, der konnte oft andere Sachen auch nicht lernen.
Sachen, die zur Grundbildung gehören. Sachen, die man im Alltag braucht.
Deshalb bietet die VHS für Lese-Lerner noch andere Kurse an: zum Beispiel Rechnen
und den Umgang mit dem Computer. Die VHS Region Lüneburg arbeitet schon lange
in diesem Bereich. Deshalb ist sie Regionales Grundbildungs•zentrum geworden.

In Niedersachsen gibt es 8 von diesen Zentren. Ihr Ziel: Die Situation verbessern,
Möglichkeiten eröffnen. Denn Bildung bedeutet auch, sich selber informieren können.
Im Beruf weiterkommen. Mitreden können. Anerkennung. Teilhabe. Das ist übrigens
auch ein wichtiger Aspekt von Nachhaltigkeit.

Funktionale Analphabeten

Das Wort Analphabet mögen Frau Schmitt und Frau Meyer nicht so gern. Das kann
ich verstehen. Sie haben einen Schul•abschluss. Ihre Lehre abgeschlossen. Sie haben
in ihrem Beruf gearbeitet.

Beide betonen, dass sie auch vor den Kursen an der VHS schon lesen konnten:
einfache Wörter, kurze Sätze. Aber es war anstrengend. Es ging nicht mal so eben
nebenbei.
Es reichte nicht, um normal zu „funktionieren“. Kein schönes Wort für Menschen.
Doch das ist gemeint.

Ständig unter Strom

Alles Schriftliche bedeutet Stress. Auf Dauer macht das krank.
Navi (sprich: Na-wi). Fahrplan. Formulare. Auftrag oder Bericht auf der Arbeit.
Aushänge. E-Mails (sprich: i-Meels).
Oder der Einkauf:
Beide sagen, sie haben immer wieder falsch eingekauft.

Haftcreme statt Zahncreme: Peinlich, wenn eine Freundin dabei ist. Aber Frau
Schmitt reagiert sofort. Sie sagt lachend: „Ups, da hab ich mich vergriffen.“

Schnell eine Erklärung oder Ausrede haben, darin sind alle Wortblinden gut.
Auch schauspielern hilft, sagt Frau Schmitt. Sie hat oft die Augen so bewegt,
als ob sie lesen würde. Deshalb hat das Umfeld auch nichts gemerkt.

Ursachen

Ist die Schule schuld? – Klare Frage, klare Antwort. 3-mal: „Ja!“
Dann räumen alle 3 ein:
Es ist meist eine Mischung. Aber die Schule geht eben nicht genug darauf ein,
wenn jemand länger braucht. Oder wenn es zu Hause Probleme gibt.

Die Kinder kommen einfach in die nächste Klassen•stufe. Frau Thiem nennt das
„pädagogisch versetzen“. Nicht versetzen ist aber auch keine Lösung. Besonders
wenn Jugendliche sich in der Schule nicht mehr wohl fühlen. Ein weites Feld …
Die Patent•lösung gibt es nicht.

Frau Meyer hat in der weiterführenden Schule gute Erfahrungen gemacht. Aber die
Lese-Blockade war einfach schon da. In der Berufsschule hat man ihr die Fragen in
der Prüfung dann vorgelesen. Das war toll.

Lebenslanges Lernen

Die Mitglieder von Wortblind haben das Lesen und Schreiben alle als Erwachsene
in ihr Leben geholt. Die Lese-Kurse an der VHS haben ihnen dabei geholfen.
Es ist nie zu spät.
Und es lohnt sich immer.

Gut lesen lernen

Kontakt:
Die Gruppe Wortblind trifft sich am 2. Mittwoch im Monat um 19 Uhr
in der VHS (Haagestraße 4). Jeder ist willkommen.

Weitere Infos unter:
www.wortblind-lueneburg.de
Telefon: Montag + Freitag, 9:30 bis 11:30 Uhr: 0157-5062-8468

VHS – Volkshochschule Region Lüneburg:
www.vhs.lueneburg.de
Telefon: 04131-1566-0
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Text von Angelika Pohl.
Aus: Was zählt. – Magazin für eine lebenswerte Zukunft in der Region Lüneburg.
Was zählt. „Auf|hören“ – Nummer 5 im Juni 2017.
Die Texte in Was zählt. stehen unter einer Creative-Commons-Lizenz (CC)
(sprich: Kri-äi-tif Komm-mens).
Foto: pixabay.com (Hans), bearbeitet von I. Schwarm.